Mittwoch, 28.11.2018

Warum ist die Aare so grün? 3. Teil

Die Farbe der Aare hat ins Dunkelgrüngraue bis Blauschwarze gewechselt.  Im letzten Monat hat der Bewuchs von Algen, Wassermoosen und Wasserflechten auf dem Grund stark zugenommen. Die Kieselsteine tragen regelrechte Polster. Beim tiefen Wasserstand und der geringen Fliessgeschwindigkeit lagern sich zudem auch mehr Sand und Sedimente ab. Doch dass dies alleine der Grund für das Fehlen der smaragdgrünen Farbe ist, bezweifle ich.

Hoch oben in den Bergen, hinter den Gletschertoren, in der Geborgenheit des ewigen Eises, sitzt die Eiskönigin an ihrem langen Tisch und tupft sich die Mundwinkel mit der Serviette ab. Sie hebt ihre zierliche Hand. Der Diener, ein kleiner Gletschergnom mit zugeknöpftem Kragen, der still hinter ihr gestanden hat, eilt an ihre Seite:
„Wünschen eure Majestät noch etwas Nachschlag des glasierten Alpenhuhnes?“
„Danke, nein. Es war vorzüglich, du kannst abräumen.“
Der Diener nimmt den Teller sorgfältig vom Tisch, schlägt die freie Hand auf den Rücken, geht zwei Schritt zurück, verneigt den Kopf nur leicht, dreht bei und verschwindet hinter einer Eistüre.
Die Eiskönigin erhebt sich und geht auf den Balkon ihres Eispalastes. Sie lässt ihren Blick über das Firneis, den Gletscher, die hohen Felswände und Gipfel der Berge schweifen. Sie ist ein wenig in Sorge. Zu wenig Regen im Sommer und Herbst und nun hält die Trockenheit an. Dem wenigen Wasser kann die Eiskönigin nur noch leichte, kleine Eisgeschichten mit auf den Weg zum Meer gegeben. Und erst wenn das Schmelzwasser in der Winterkälte ganz erstarrt, wird die Eiskönigin neue Geschichten für den Frühling sammeln gehen.
Sie denkt auch an den Umstand, dass in einem geschichtsarmen Wasser die Farben zu verblassen beginnen und die Welt etwas ärmer wird. Doch die Welt braucht diese kleine Armut, diesen Winterschlaf der Farben und erst mit dem Beginn des Tauwetters wird die Eiskönigin dem milchigen Schmelzwasser neue Geschichten einflüstern.
„Eure Majestät, der Nachtisch ist serviert“, sagt die Stimme des Dieners hinter ihr.

Um 17.12 Uhr schliesse ich die Fähre ab. Im Dämmerlicht fliegt eine Wasseramsel über die Aare und taucht ins Wasser.