Wasserdaten um 15.50 Uhr:
- Abflussmenge: 67.8 m3 pro Sekunde
- Wasserstand: 501.74 m ü. M.
- Temperatur: 15.9 Grad Celsius
Mythos des Fährmanns, Teil 2
Vor 2’500 Jahren erscheint im Mahabharata, einem indischen Epos, Satyavati. Ihre Geschichte wird von Männern bestimmt und die Fähre nimmt die Form eines Exils an. Satyavati lebt aufgrund eines Fluches lange als Fisch im Fluss Yamuna. Da wird sie von Fischern gefangen und erlöst und ihre Schönheit ist unübertroffen.
Doch bleibt der Geruch nach Fisch an ihr haften. Auf Wunsch ihres Vaters, dem König Vasu, wird sie Fährfrau.
Als Parashara, ein Weiser, sie erblickt, begehrt er sie augenblicklich. Satyavati erkennt die Lage und bedingt sich aus, dass sie sich nur auf ihn einlässt, wenn sie danach ihre Jungfräulichkeit zurückerlangt und ein angenehmer Duft von ihr ausgehen werde. Der Weise geht auf ihre Bedingungen ein und hüllt die Fähre in Nebel ein, damit sie niemand sehe. Satyavatis Wünsche werden erfüllt.
Später verliebt sich Shantanu, König von Kuru, in die schöne Fährfrau und Königstochter. Der Vater bestimmt, dass dieser sie nur heiraten darf, wenn Satyavatis unehelicher Sohn, vom Weisen Parashara gezeugt, der Thronfolger wird. Und so geschieht es.
Karl Marx begegnet dem Fährmann 1882 auf einer Reise. In einem Brief an seine Tochter Laura schreibt er ihr diese arabische Weisheit:
Ein Fährmann führt einen Philosophen über einen stürmischen Fluss. Fragt der Philosoph:
„Fährmann, kennst du Geschichte?“
„Nein“, antwortet der Fährmann.
„Dann hast du die Hälfte deines Lebens bereits verloren. Hast du Mathematik studiert?“
„Nein!“
„Dann hast du mehr als die Hälfte deines Lebens verloren.“
Kaum hat der Philosoph dies gesagt, schlägt eine Sturmbö das Fährschiff um und beide stürzen in das wilde Wasser.
„Kannst du schwimmen?“, schreit der Fährmann.
„Nein!“ ruft der Philosoph.
„Dann ist dein Leben ganz verloren.“
Thomas Mann hat mit seiner Version dieses Mythos Weltruhm erlangt. Im ‚Der Tod in Venedig’ aus dem Jahre 1911 stirbt der Protagonist Gustav von Aschenbach am Strand. Der Hades oder das Totenreich ist hier Venedig, Charon ist ein Gondoliere und der Totenfluss ist das Meer.
In Hermann Hesses Klassiker ‚Siddhartha – eine indische Dichtung’ beschäftigt sich Hesse mit dem Fluss und dem Fährmann als Symbol für die grossen Fragen. Gegen Ende der Geschichte, auf seiner langen Suche nach dem Nirvana, wird Siddhartha Fährmann. Er lauscht lange dem Fluss, hört alle Stimmen der Welt, erfährt das heilige Om und die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Siddhartha erkennt die Einheit, die aus der Vielfalt erwächst und wird Teil des grossen Ganzen.
Wenn Gäste Siddhartha erwähnen, tun sie es mit Freude. Vermutlich mussten sie das Buch in der Jugend als Pflichtlektüre lesen wie ich und vermutlich hat es sie beschäftigt und beeinflusst wie mich. Und wenn das halbe Leben oder mehr vorbei ist, sitzt man auf einmal in einer Fähre und erinnert sich an Siddhartha.