Freitag, 29.03.2019

Messdaten um 14.30 Uhr:

  • Wetter: Sonnig, den ganzen Tag wolkenlos
  • Temperatur Luft: 15.7 Grad Celsius
  • Temperatur Wasser: 9.1 Grad Celsius
  • Abflussmenge: 63 m3 pro Sekunde
  • Wasserstand: 501.70 m ü. M.
  • Eine kühle, leichte Bise und ein wärmerer, thermischer Wind von Bern herkommend, wechseln sich ab

Heute Nachmittag besteht Michael auf unserer Fähre seine praktische Prüfung als Fährmann zur vollen Zufriedenheit des Experten Martin Kobel. Michael wird auf der Fähre Zehendermätteli seine Arbeit aufnehmen, sobald es der Wasserstand dort erlaubt. Martin Kobel fragt beim Kaffee auf der Terrasse, welche Massnahmen zu treffen sind, wenn einmal das Drahtseil reissen sollte. Wir besprechen diesen Punkt eingehend.
Ein übergewichtiger Mann klingelt bei der Treppe und wartet. Michael und Martin Kobel stehen mit mir auf und verabschieden sich.
Ich schnalle die Brieftasche um, begrüsse den Gast, lasse ihn einsteigen und lege ab. Da fragt er mich:
„Was ist, wenn das Seil reisst?“

Dem Drahtseil auf der Spur

Das Drahtseil ist offensichtlich ein Anziehungspunkt, ein Objekt der Aufmerksamkeit, ein Magnet für die Gemüter. Die Frage, was denn wäre, wenn das Seil reisst, wird mir oft gestellt. Die Chance, dass der Fall eintritt, liegt jedoch annähernd bei Null Prozent.

Die Beweggründe, sind verschieden. Die Frage kann aus rein technischer Natur gestellt werden, oder aus Neugier, um ein Gespräch zu beginnen, aber auch, weil diese Möglichkeit den Leuten unheimlich erscheint. Ganz so, als würde danach eine Katastrophe eintreten, einem Flugzeugabsturz gleich, einer Bahnentgleisung, einer Massenkollision, oder sonst eines grausigen Ereignisses.

Wenn ich den Fährmann Charon aus der griechischen Mythologie zu diesem Thema befrage, antwortet er mir, dass das Drahtseil nur eine Ablenkung vom Fährmann und der eigentlichen Überfahrt in den Hades ist. In diesem Moment wo der Fahrgast keine Möglichkeit der Kontrolle oder Flucht mehr hat und stillsitzend über das Wasser schaut, erblickt er seine Vergänglichkeit. Da fliesst das ganze Leben an ihm und unter ihm vorbei, während er auf die andere Seite wechselt. Es ist verständlich, dass in diesem Fall manchem Zeitgenossen ein metaphysisches Gruseln den Nacken hinaufkriecht.

Für Siddhartha aus Hermann Hesses Roman, kommt das Versagen des Seils einer Befreiung gleich. Er stellt fest: ‚Als der Strom der Gestaltungen ihn erfasst, gelangt er zum Erwachen.’ Das Leben wird zum Zuhören und Beobachten, zum Lauschen der unendlichen Stimmen des Lebens. Das Gruseln macht hier sozusagen der Ekstase Platz.

Friedrich Dürrenmatt beschäftigt sich auf andere Weise mit solchen Fragen. ‚Je planmässiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer mag sie der Zufall zu treffen’, schreibt er 1962 in Komödien II. Hier kann ich das Planmässige mit einem sicheren Transport von der einen auf die andere Seite der Aare interpretieren. Der Zufall tritt ein, in jenem Moment wo das Drahtseil reisst.
Die Frage ‘was ist, wenn das Drahtseil reisst’, erscheint in diesem Fall mehr wie die Sehnsucht nach dem Zufall, dem Abenteuer, der Grenzüberschreitung.

Nun noch zur Realität. Ich würde wie zuvor mit Marcel und Martin Kobel besprochen, bei Eintritt dieses Falles die Leute bitten, ruhig sitzen zu bleiben. Ich würde den Rest des Seils einziehen und mit dem Notruder die Aare hinunterfahren, langsam und gemütlich – so wie das tausende Schlauchboote auch tun. Vermutlich würde ich der Form halber fragen, ob jemand eine Schwimmweste braucht. Beim Eichholz würde ich die Fähre in die Bucht manövrieren, auf die Kiesbank fahren, aussteigen und das Schiff sichern. Ich würde die Leute bitten auszusteigen, mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen und mich höflich verabschieden.

Meine letzten Gäste um 17.20 Uhr sind zwei Inder mit Turban, einem orangen und einem gelben. Ihr indischer Singsang dauert die ganze Überfahrt und klingt wie ein Gruss aus dem Hier und Jetzt.