Mittwoch, 12.09.2018

„Vielleicht ist heute der letzte Tag des Altweibersommers. Das dürfe man noch sagen. Auch als emanzipierte Frau“, sagt eine streng blickende Frau beim einkassieren auf der Fähre. „Gleichberechtigt wäre es zwar dann, wenn es einen Altherrenherbst geben würde“, ergänzt sie.

„Dann müsste es aber Altfrauensommer heissen“, bemerke ich.
„Warum eigentlich Alt?“, fragt die Frau, „es könnte ja Jungweibersommer heissen, oder Jungfrauensommer.“
„Das wäre eher etwas für den Frühling. Jungfrauenfrühling.“
„Es gibt aber auch reife Jungfrauen“, entgegnet sie und mir ist nicht klar, ob sie sich damit selbst meint.
„Wenn sie meinen“, sage ich vorsichtig, „dann sind wir schon fast beim Junggesellenwinter.“
Unsere lockere Auseinandersetzung über diese Begriffe geht – ohne einen Konsens zu finden – weiter, bis ich wieder angelegt habe. Die Frau steigt aus und wir können uns beim Verabschieden doch auf eine Aussage einigen: Es ist ein schöner Altweibersommer.

Heute kommen sie, die Dauergäste, die ich den Sommer durch vermisst habe. Sie erzählen, dass sie im Hochsommer die Stille im Wald gesucht haben, oder auf dem Dentenberg, dem Längenberg, dem Forst. Die Frau von Steffisburg mit dem Cocker Spaniel verbrachte die Sommerferien im Oberland, in den Alpen, in der üblicherweise kühleren Region. Aber dieses Jahr sei es auch da heiss geworden. Jetzt sei sie zurück, weil die Jagdsaison begonnen habe. Das möge sie nicht. Der Hund auch nicht.

„Hast du deinen Hut vergessen?“, frage ich Toni, als ich ihn um 11 Uhr auf der Wabernseite begrüsse.
„Nein, ich bin mit dem Klappvelo da. Schau, da oben. Hinter der Bank habe ich es parkiert. Ich fahre mit ihm eine längere Runde über das Eichholz. Da trage ich einen Helm.“
„Dann hältst du Juweli schön auf Trab.“
„Nein. Wo denkst du hin. Schön gemütlich. Sogar die Jogger überholen uns. Aber eine etwas andere Bewegung tut mir gut.“
Ich erzähle ihm von meinem Onkel, der neunundneunzig jährig wurde. Dass der bis weit über neunzig Rad gefahren ist. Und Moped.
„Also bis neunzig mache ich das nicht“, sagt Toni. „Da bin ich vielleicht nicht mehr da. Bin dann schon auf dem Friedhof. Habe schon ein Plätzchen reserviert.“ Er lacht und steigt aus.
Als Toni nach seinem Kaffee im Fähribeizli zurückkehrt, führe ich ihn und andere Gäste schweigend über die Aare. Der Sonnenstand ist nun schon tiefer als im Hochsommer und die Strömung des Wassers glitzert verspielt.
Auf der anderen Seite angekommen, sichere ich die Fähre und die Gäste steigen aus. Nur Toni bleibt sitzen. Ich setze mich ihm gegenüber und kraule Juweli, die sich auf dem Boden räkelt. Toni beginnt:
„Das muss ich dir jetzt schon erzählen. Ohne anzugeben. Ich war einer der besten Pistolenschützen und habe ein paar Mal den Schweizer Titel der Veteranen auf fünfzig Meter geschossen. War immer zuoberst auf der Rangliste.“ Er macht eine Pause. „Und seit meine Frau gestorben ist, bin ich zuunterst auf der Rangliste.“ Wieder macht er eine Pause und schaut mich erwartungsvoll an, ganz so, als ob ich ihm jetzt gleich eine Pille geben werde. Ein Gegenmittel.
„Ja, ich schiesse miserabel und gewinne nichts mehr. Das hätte ich nie gedacht, diesen Zusammenhang.“
„Das kann ich schon verstehen“, sage ich. „Ihr wart ja das ganze Leben zusammen. Das ist doch ein Schock so ein Verlust. Das braucht Zeit.“
Toni schweigt, schluckt leer und schaut über die Aare. Die Reflektionen der Sonnenglitzer spielen auf seinem Gesicht.
„Ja, ja. Aufhören mit dem Schiessen, das will ich aber noch nicht. Irgendwann treffe ich wieder“, sagt er, steht auf, geht die Treppe hoch und radelt davon.

Heute führt die Aare 95 Kubikmeter Wasser pro Sekunde – erstmals seit einem halben Jahr unter 100 Kubikmeter. Der Sommer verabschiedet sich.