Buchbesprechung DerBund

Alexander Sury schafft mit seiner Buchbesprechung im kleinen Bund einen wunderbaren und treffenden Überblick über das „Aare – Logbuch eines Fährmanns“:


Alexander Sury, 28. August 2021, Der Kleine Bund

Die Überfahrt dauert 83 Sekunden und kann eine innere Weltreise sein.

Der Berner Architekt Daniel Glauser ist seit einigen Jahren hauptberuflich Fährmann. Jetzt hat er ein Buch herausgegeben. Sein Logbuch liest sich leicht, weil darin alles im Fluss ist.
«Dauergäste geben dem Alltag frohe Orientierungspunkte», sagt Bodenacker-Fährmann Daniel Glauser.
«Dauergäste geben dem Alltag frohe Orientierungspunkte», sagt Bodenacker-Fährmann Daniel Glauser. Foto: Nicole Philipp

Am 5. März 2019 hat der Fährmann auf einer seiner Überfahrten zwei weibliche Passagiere an Bord. Ob es ihm denn nicht manchmal langweilig sei, etwa bei schlechtem Wetter, wenn die Kundschaft ausbleibe. In seinem Logbuch notiert Daniel Glauser seine Antwort: «Als ich jung war, hätte mir Fährmann nicht gereicht. Da wollte ich die Welt verändern, etwas leisten, und da kannte ich mich noch nicht gut genug.» Eine der Frauen entgegnet: «Die Beziehung zu sich selber ist wohl die schwierigste. Manchmal geht es lange, bis man sich kennen lernt.» Und die andere meint: «Ja. Und manchmal muss man sehr lange auf sich warten.» Fährmann ist seit einigen Jahren der Hauptberuf des 60-jährigen Architekten Daniel Glauser. Sein 50-Prozent-Pensum auf der Bodenackerfähre in Muri entspricht etwa zehn Arbeitstagen im Monat, dies bei einem Ganzjahresbetrieb, nur im Februar gibt es eine Woche Betriebsferien, in der die Fähre in der Werft in Revision ist.

«Als ich jung war, hätte mir Fährmann nicht gereicht. Da wollte ich die Welt verändern, etwas leisten, und da kannte ich mich noch nicht gut genug.» Daniel Glauser

Diese Fähre ist ein Einpersonenbetrieb, alle Funktionen vom Kapitän und Steuermann über den Koch im Fährhaus bis zum Mechaniker und Matrosen sind vereint in ein und derselben Person: im Fährmann eben. Ein paar Fakten zum Fährschiff: Es ist 9,1 Meter lang und 2,36 Meter breit, die maximale Nutzlast beträgt 16 Passagiere sowie die Fährperson. Das Schiff ist aus Polyester und Aluminium, die Bänke sind aus Holz. Pro Jahr werden annähernd 40’000 Gäste übergesetzt. Eine durchschnittliche Überfahrt dauert 83 Sekunden, bei der Arbeit gilt für den Fährmann 0,0 Promille. Die Fahrpreise wurden letztmals 1997 angehoben: Erwachsene zahlen 2 Franken, Kinder, Hunde und Fahrräder kosten die Hälfte, eine Mehrfahrtenkarte ist für 20 Franken zu haben.

Von Eros bis Baby

Für sein Buch «Aare. Logbuch eines Fährmanns» hat Daniel Glauser von Juni 2018 bis Juni 2019 Tagebuch geführt, es geht um Begegnungen mit Menschen und Naturbeobachtungen, Statistiken und Messdaten strukturieren die Einträge. Da werden Temperaturen, Abflussmengen und Wasserstand notiert, aber auch Gerüche festgehalten, etwa an einem heissen Sommertag: «Sonnengesättigtes Laub und Moosboden, durchzogen mit dem Duft von Sonnencremes und Hanfprodukten.» Es wird überdies Buch geführt über die Namen der Hunde seiner Gäste – von Eros (Pudel) bis Baby (Deutsche Dogge). Oder eine Hitparade der beliebtesten Songs auf den Schlauchbooten im Sommer (»W. Nuss vo Bümpliz» von Patent Ochsner steht auf Platz 1) wird erstellt. Überhaupt die Invasion der Schlauchboote: Sie sind eine grosse Herausforderung im Sommer für den Fährbetrieb. Glauser zitiert aus der Binnenschifffahrtsverordnung: «Schlauchboote müssen vor einem Kursschiff, also auch vor der Fähre, ausweichen.» Die Realität allerdings sieht anders aus. Die Fähre ist ein träges Schiff, also gilt: «Lücken abwarten ist die einzig vernünftige Devise für eine sichere Überfahrt.»

Eine Armada von Schlauchbooten: Da gibt es für den Fährmann nur eine Möglichkeit – Lücken abwarten.
Eine Armada von Schlauchbooten: Da gibt es für den Fährmann nur eine Möglichkeit – Lücken abwarten. Foto: Walter Pfäffli

Unangestrengt werden in diesem Logbuch auch Geschichten über den Mythos des Fährmanns eingewoben – über Charon etwa, der die Toten über den Styx in den Hades rudert –, es werden mehr oder weniger ernsthaft die Gründe für die smaragdgrüne Farbe der Aare erörtert oder es wird über Eiskönigin und Gletschergnome in den Alpen und deren magische Einwirkung auf den Fluss fabuliert. Daniel Glauser ist selber in der Nähe der Aare aufgewachsen. Bei einem Besuch der Bodenackerfähre im Herbst 2016 kam er mit dem Fährmann bei einer Tasse Tee ins Gespräch. Beiläufig erwähnte dieser, dass er bald pensioniert werde. Daniel Glauser wusste in dem Moment: «Fährmann – das ist es!»

Der Fährmann leiht sein Ohr den Gästen, während er zwischen der Muri- und der Wabern-Seite hin- und herfährt, manchmal hat er etwas von einem Barkeeper, der eine mobile Theke betreibt, wobei er natürlich nichts Flüssiges ausschenkt. Eine der Fragen, die dem Fährmann immer wieder gestellt werden, lautet: «Was würde er tun, sollte das Seil reissen?» Manchmal versucht er sich in witzigen Entgegnungen (»Wenn Sie Zeit haben, fahren wir bis Rotterdam»), die nicht immer als humorvoll erkannt werden. Darum schiebt er dann jeweils die «richtige» Antwort nach: «Ich würde mit Ihnen bis ins Eichholz fahren, da befindet sich die erste ruhige Anlegestelle.»

Unter den Dauergästen hat es – keine Überraschung – viele ältere Leute, oft sind sie mit Hunden unterwegs. Manche erzählen vom verstorbenen Ehepartner, einer war einst ein hervorragender Pistolenschütze, seit dem Tod seiner Frau trifft er nicht mehr.

Der Fährmann notiert später: «Frage: ‹Wird Heidi im Meer verdunsten und wiederkehren?›»

Ein anderer Witwer kommt jeweils zum Spaziergang von Steffisburg, weil es hier an der Aare viel schöner sei. Dem Fährmann präsentiert er stolz seine Wanderrechnung: «Ich bin in diesen zehn Jahren schon mehr als einmal um die Welt gewandert. 10 Jahre mal etwa 300 Tage mal 14 Kilometer gibt 42’000 Kilometer.» Ein distinguierter Herr organisiert auf der Fähre die Abschiedsfeier für seine Frau Heidi, die so gern in der Aare schwamm und deren Asche nun in den Fluss gestreut wird. Der Fährmann notiert später im Logbuch: «Frage: ‹Wird Heidi im Meer verdunsten und wiederkehren?›»

Glausers Logbuch zieht seinen Reiz daraus, dass nüchterne Protokolle seiner Tätigkeiten – etwa die detaillierte Chronologie einer Schiffsreparatur – neben feinen, mitunter fast lyrischen Schilderungen des Flusses und der ihn umgebenden Natur stehen, die oft witzigen Statistiken (Sonnenbrillenmodelle auf den Schlauchbooten) kontrastieren mit Begegnungen, in denen verbales Oberflächengeplätscher unvermittelt in Tiefgang übergehen kann. Und dann ist da diese Magie der Überfahrt, des Übergangs. Gäste sitzen plötzlich still und regungslos auf der Holzbank, ihr Blick schweift gedankenverloren über das Wasser, ihr Gesichtsausdruck ist gelöst und entspannt. Auf einmal scheint etwas Grösseres über der Fähre zu schweben. «Gerade so», notiert Glauser, «als würde kurz eine Seele aus dem Hades dem Gast zuzwinkern und lächeln.»

Mehr Unruhe und Unsicherheit

Daniel Glausers Jahreszyklus ging im Sommer 2019 zu Ende, ein halbes Jahr vor Beginn der Corona-Pandemie. Im Frühling 2020 war die Fähre während drei Monaten geschlossen. «In dieser Zeit beschäftigte ich mich in der Umgebung mit neuen Hinweisschildern zur Fähre, das war auch spannend», erzählt er. Nachdem die Fähre im Sommer 2020 ihren Betrieb wieder aufgenommen hatte, stieg die Zahl der Gäste etwa um die Hälfte an. Die Leute kämen nicht mehr vorwiegend am Wochenende, sagt Glauser, «sondern verteilen sich jetzt über die ganze Woche». Gründe dafür gebe es viele: das Homeoffice, der Trend, mehr für die eigene Gesundheit zu tun, aber auch die Zunahme von Ferien in der Schweiz, «und die Leute treffen Freundinnen und Freunde lieber unterwegs statt in geschlossenen Räumen».

Fährmann Glauser ist zudem aufgefallen, dass seit der Pandemie die Geduld der Gäste geschrumpft, die Zündschnur kürzer geworden sei. «Es liegt mehr Unruhe und Unsicherheit in der Luft, bei der Wartezeit, aber auch während der Überfahrt. Leute, die nur dasitzen und den Moment entspannt geniessen, gibt es weniger.» Dafür werde das Handy mehr gezückt, die Überfahrt werde festgehalten und zum touristischen Moment. Immer wieder notiert der Fährmann in seinem Logbuch Gespräche, die ebenso lakonisch wie philosophisch anmuten. Einmal wird der Fährmann in ärgerlichem Ton gefragt, wohin denn die Fahrt gehe, das stehe nirgends am Ufer. Das Reiseziel sei die andere Seite des Flusses, sagt der Fährmann. Grosses Erstaunen: «Was! Das ist nicht wahr! Nur auf die andere Seite?» Daniel Glauser zeigt in seinem bezaubernden Logbuch unter anderem, dass sich die kurze Fahrt auf die andere Seite mitunter zu einer grossen innere Reise auswachsen kann.