Heute fahren meist freundliche Gäste auf der Fähre in das neue Jahr. Fremde wünschen einander ein gutes Neues, gute Gesundheit oder viel Glück. Auch mir wird viel Gutes gewünscht und mit dem Trinkgeld wird ein grosszügiger Umgang gepflegt.
„Mama?“, fragt ein etwa sieben jähriges Mädchen.
„Was?“
„Darf ich das Wasser berühren?“
„Nein. Es ist sehr kalt. Und gefährlich.“
Das Mädchen schaut ihre Mutter mit Schmollmund an:
„Ich möchte aber einen Wunsch ins Wasser geben.“
Die Mutter schmunzelt, stolz und voller Freude.
„Ja also, mach das, aber ohne Handschuhe. Und bleib sitzen.“
Das Mädchen zieht die Handschuhe aus, legt sie ordentlich auf die Bank und beugt sich über das Wasser. Die besorgte Mutter hält das Kind an der Jacke fest. Es berührt die Aare kurz, nimmt den Arm zurück und zieht die Handschuhe wieder an. Die Mutter nimmt sie in den Arm.
„Was hast du dir denn gewünscht?“, fragt sie ihre Tochter.
„Das kann ich dir nicht sagen, Mama. Sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.“
Das Mädchen schaut mich an, als würde es Unterstützung suchen. Ich lächle und ein breites Strahlen geht über sein Gesicht. Kaum angelegt, springt das Mädchen davon. Die Mutter verabschiedet sich von mir, immer noch sichtlich stolz über den Einfall ihrer Tochter. Vielleicht hat sich das Mädchen gar nichts gewünscht, sondern es hat eine Möglichkeit gesucht, die Mutter kurz auszutricksen.
Ich steige die Treppe hoch und ein Hund kommt mir entgegen. Dahinter eilt eine Frau herbei:
„Halt! Luna, stopp!“
Der Hund bleibt augenblicklich stehen, zieht den Kopf ein und blickt zurück.
„Schön warten. Ja, so ist brav, Luna. So ist brav.“
„Ah! Sie sind’s. Guten Tag und Alles Gute im neuen Jahr“, sagt die junge Frau.
„Danke. Ja. Ihnen auch ein gutes neues Jahr. Sind sie gut gerutscht?“, erwidert der Mann mit elegantem Hut und Schal.
„Ja, es war lustig. Wir waren an einer grossen Party“, antwortet die Frau und lehnt sich ein wenig zu ihrem Freund, der neben ihr sitzt. Er nimmt ihre Hand.
„Oh, schön. Partys sind nichts mehr für mich. Zu laut“, fährt der Mann fort.
„Was haben sie denn gemacht?“
„Wir waren bei Freunden. Haben gut gegessen und geplaudert und haben Mitternacht beinahe vergessen. Ich habe an den Jahreswechsel keine grossen Erwartungen mehr.“
„Keine Vorsätze?“
„Nein, keine Vorsätze. Das gibt nur Druck und klappt doch nie.“
„Hm.“
„Riechen sie mal. Diese Frische! Ich will mehr spazieren gehen“, sagt der Mann. „Mehr Natur atmen. Anstelle der klimatisierten Luft im Büro.“
„Ja, ist das jetzt doch ein Vorsatz?“, fragt die Frau. Der Mann lacht:
„Vermutlich, ja.“
Ich lege an. Die drei Gäste gehen an mir vorbei und steigen die Treppe hoch.
„Wann arbeiten sie wieder?“, fragt die Frau den Mann beim Abschied.
„Erst nächsten Montag. Diese Woche habe ich noch Ferien.“
„Also dann, sehen wir uns vermutlich am Montag beim Kaffee in der Pause wieder. Und atmen klimatisierte Luft.“ sagt die Frau und hakt sich bei ihrem Freund ein.
„Es ist etwas besonderes das neue Jahr auf der Fähre zu beginnen“, sagt eine alte Frau mit einem krummen Rücken und deformierten Händen, nach dem sie sich mühevoll gesetzt hat.
„Ja, Mama. Fähre fahren ist schön. Schau einmal das klare Wasser“, sagt ihre Begleiterin.
Die alte Frau hält sich mit der Hand an der Rückenlehne der Bank fest, zieht sich mit Mühe auf die Seite, immer weiter, bis sie ins Wasser schauen kann. Ihre krummen Finger lösen sich von der Rückenlehne, sie beugt sich leicht über den Rand der Fähre und versucht das Wasser zu berühren, was ihr nicht gelingt. Sie lächelt:
„Es ist wie als ich ein Kind war.“