Ich lege um 11.25 Uhr auf der Wabernseite an, steige aus und sichere die Fähre. Igor liess sich einen schönen, grau melierten Bart wachsen. Seine Schildmütze hat er locker aufgesetzt, den Schild im Nacken. Er trägt eine weite Fliegerjacke, schwarze Jeans und weisse Turnschuhe. Er führt einen Bullterrier an der Leine, steigt ein und setzt sich vorne auf die Bank. Eine Frau um die Fünfzig kommt den Weg entlang. Sie eilt die Treppe hinunter.
„Nehmen sie sich Zeit. Ich fahre ihnen nicht davon“, sage ich.
Sie schaut zu Igor und dem Bullterrier, lächelt unsicher, drückt sich am Hund vorbei und setzt sich hinten auf die Bank. Während ich Igors Mehrfahrtenkarte entwerte, schnuppert der Hund an meiner Hose und wedelt mit dem Schwanz.
„Kann ich?“, frage ich Igor.
„Klar“, nickt er.
Ich streichle dem Hund über den Kopf, klopfe ihm den Hals. Er leckt meine Hand.
„Wie geht es dir?“, frage ich Igor.
„Sehr gut, und dir?“
„Danke, mir geht es auch gut.“
Ich kassiere bei der Frau ein, reiche ihr die Fahrkarte, löse die Fähre und stosse ab. Igor schaut schweigend über das Wasser und krault den Hund. Die Frau wendet sich an Igor:
„Diese Hunde sind doch eigentlich gefährlich, oder?“
Igor schaut kurz um und nickt nur.
„Das ist doch ein Kampfhund, oder?“
Igor nickt ein zweites Mal.
„Aber auch bei diesen Hunden kommt es offenbar auf die Erziehung an, oder?“
Igor dreht sich zu ihr um und sagt freundlich:
„Hören sie, ich möchte meine Fahrt gerne geniessen. Entschuldigen sie, aber ich will nicht sprechen.“
Dann schaut er wieder über das Wasser, als wäre nichts gewesen. In der Mitte der Aare sagt die Frau zu mir:
„Könnten sie etwas schneller fahren?“
„Das könnte ich schon. Aber warum sollte ich das tun?“
„Wegen dem Hund“, flüstert sie und verzieht das Gesicht.
„Der macht ihnen nichts. Da brauchen sie keine Angst zu haben.“
Die Frau schweigt. Innerhalb zweidrei Sekunden ändert sich ihr Gesichtsausdruck mehrmals. Darauf holt sie ihr Smartphone aus der Jackentasche und macht Bilder von der Aare.
Das Laub des wilden Weins, der an der Ecke zum Fähribeizli die Terrasse schützt, färbt sich rot und gelb. Auch die Bäume tauchen ihre Blätter langsam aber stetig in bunte Herbstfarben. Die Tage sind noch warm, doch die Temperaturen in der Nacht fallen auf fünf Grad Celsius. In der grünen Aare, die gegen die Ränder nun warmbraun wird, ziehen bunte Blätter vorbei, Bilder zeichnend, Gesichter des Herbstes.
Autumn Leaves
The falling leaves drift by my window
The falling leaves of red and gold
I see your lips the summer kisses
The sunburned hands I used to hold
Since you went away the days grow long
And soon I’ll hear old winter’s song
But I miss you most of all my darling
When autumn leaves start to fall
Original 1945, Les Feuilles Mortes
von Johnny Mercer
1947 ins englische übertragen und mannigfach interpretiert; zum Beispiel 1956 im gleichnamigen Film von Nat King Cole; oder 1996 umwerfend schön von Eva Cassidy